„Der Ort genannt Heimat“ – Haniehs Perspektive

Im Rahmen des Projektmanagement Seminars hat STUBE Hanieh Hamidpour  kennengelernt. Selbst Iranerin teilt Hanieh auf einzigartig Art und Weise Ihre Einschätzung über die momentane Situation im Iran mit uns.

Tag 1:  17. September 2022 um 11:20 Uhr

„Hast du es gehört?“, fragte mich eine unruhige Stimme im Telefon. Entspannt erwiderte ich darauf: “Was genau?“. – „Sie haben wieder eine junge Frau getötet!“. Stille herrschte in der Leitung, sodass ich sie laut atmen hörte. „Wen denn? Und wieso?“, wollte ich wissen. – „Eine Kurdin namens Zhina (Mahsa Amini). Und, wie fast immer, für nichts. Sie war nur zu Besuch in Tehran, ist aber nie wieder zurückgekehrt. Sie behaupten, ihre Haare waren nicht genügend bedeckt.“… Erneut herrschte eine unangenehme Stille. In diesem Moment musste ich an Neda (Neda Agha-Soltan, Märtyrerin in 2009) denken, und zeitgleich kam mir das unschuldige Gesicht von Romina (Romina Ashrafi, Ehrenmord in 2020) in den Sinn. Meine Augen versanken in einem Meer von Tränen. Wut stieg in mir hoch, während Tränen die Wangen herunterflossen. „Bist du noch da?“, erkundigte sie sich mit leiser Stimme. – „Was für ein Wahnsinn!! Und ja, mein Körper ist hier, aber meine Seele liegt begraben unten in der Erde. Lass uns später reden.“

Einige Jahre zuvor, im Jahr 2009

Es waren die ersten Monate in Hamburg. Ich vermisste meine Freundin sehr. Und ich fühlte mich im siebten Himmel, sobald ich auf diesen fremden Straßen jemanden Farsi reden hörte.

Es war ein Spaziergang entlang einer der schönsten Sehenswürdigkeiten von Hamburg, der Alster. Die Lichter in der Dämmerung machten den Fluss noch um einiges schöner. Ich beobachtete das reine, langsam vorbeifließende Wasser. In dem Augenblick erhielt ich ein Foto von meiner Freundin. Es erschreckte mich sehr, sprachlos stand ich da. „Was ist passiert? Warum bist du stehen geblieben?“, wurde ich gefragt. Ich antwortete nicht, wies nur voller Trauer auf das Foto. Es zeigte die Si-O-Se-Pol (33-Bogen-Brücke) und den ausgetrockneten Zayandeh Rud (lebensspender Fluss), der nun kein faszinierender Fluss in der Mitte Isfahans mehr war sondern eine trostlose, verlassene Wüste.

Tag 3:  20. September 2022 um 16:04 Uhr

Ihr Video war auf einmal überall in den sozialen Medien zu sehen. Ihr Lachen, ihre Jugend und ihre Stimme, die auf einmal nicht mehr da waren – nicht wegen einer Krankheit oder eines Unfalls, NEIN! Nur weil sie für ihr Recht aufs Leben und auf freien Atem gekämpft hatte. „Es ist brutal!“, sagte sie am Telefon. „Ich könnte sie sein, jeder von uns könnte an ihrer Stelle sein…“

Einige Jahre zuvor, im Jahr 2012

Es war ein normaler Schultag. Wir freuten uns auf die erste Stunde, nicht auf den Sport, sondern dass wir, meine beste Freundin und ich, zusammen im Sportunterricht waren. Eine relativ große Sporthalle. In der letzten Woche hatten wir Basketball gespielt, und heute war Tanzen dran. Wir sollten uns in Paaren zu zweit zusammenstellen. In einer kurzen Sporthose und einem T-Shirt stand ich vor meiner Freundin, und wir beide waren bereit. Die Musik lief, und während wir in der geräumigen Halle hin und her schwebten, tanzten gleichzeitig Schülerinnen in Schuluniformen und Kopftüchern in Shin-Abad. Auch sie schwenkten ihre Hüften zu einem Klang. Aber das war der Klang des Feueralarms, und sie bewegten sich, um ihr Leben vor den schrecklichen Flammen zu retten, die die ganze Schule in Brand gesetzt hatten. Grund war eine defekte Heizungsanlage, und es gab 27 Verletzte und zwei Tote zu beklagen. (Schulbrand im Nordwesten Irans)

Tag 7:  24. September 2022 um 21:26 Uhr

Ich lag auf meinem Bett, aber ich spürte mich nicht. Diese Gedanken ließen mich nicht eine Sekunde in Ruhe. Alles nur, weil sie Frauen waren. All das an dem Ort auf der Erde, den ich meine Heimat nenne: Iran. Indessen war dieses Jahr anders…  Das sagten alle. Ich hingegen spürte es mit all meinen Sinnen.

Einige Jahre zuvor, im Jahr 2014

Ich fuhr auf mein lilafarbenes Fahrrad der Straße entlang. Meine Haare wurden dabei von dem angenehmen Sommerwind gestreichelt. Er wartete vor dem Café auf mich. Ein Küsschen auf den Lippen, und wir traten in die Cafeteria ein. Sie jedoch wurde in der gleichen Zeit, während ich lachend meinen Kaffee genoss, mit Acid, direkt in ihre wunderschönen Augen begrüßt. Wie widerlich sind einige Menschen… (Acid-Attacke auf Frauen in Isfahan, Iran)

Tag 21  7. Oktober 2022 15:14

„Ich gehe heute ein bisschen früher, wenn das in Ordnung ist?“, meinte ich vorsichtig. – „Ja, das geht klar. Was bereitest du denn da vor?“, fragte sie neugierig, während sie aufstand und zu mir an den Tisch kam. – „Ich bereite ein Plakat vor, hab‘ gestern schon damit angefangen. Heute ist eine Demo hier in Köln zur aktuellen Lage im Iran,“ erklärte ich ihr stolz. „Oh, ja, verstehe…“, sagte sie gelangweilt und setzte sich zurück auf ihren Platz mit einer weiteren Äußerung: „Es ist aber nicht das erste Mal, oder? Jedenfalls wünsche ich euch viel Erfolg bei eurem Vorhaben!“ – „Du hast Recht, es ist nicht das erste Mal, aber dieses Mal ist anders. Es ist anders, denn auf der ganzen Welt sind wir alle vereint und verfolgen das gleiche Ziel. Diese Vereinigung iranischer Menschen ist einzigartig!“ So reagierte ich auf das von ihr Gesagte und bastelte mein Plakat zu Ende.

#Frau #Leben #Freiheit

Einige Jahre zuvor, im Jahr 2017

Es war das zweite Jahr meiner Ausbildung. An einem Tag sind wir nach der Schule mit Kollegen zu einem der höchsten Gebäude Hamburgs gegangen, der St. Michaelis Kirche. Vom Turm aus konnten wir fast ganz Hamburg zu unseren Füßen betrachten. Ein herrlicher Anblick. Als ich am Abend nach Hause kam, hörte ich ihre angespannte Stimme: „Heute ist die Passage Plasco durch einen Brand eingestürzt. Es gab 21 Tote und 253 Schwer-Verletzte.“ Seit jenem Abend hasse ich jedes hohe Gebäude. (Brand und Einsturz Plascos)

Tag 35:  27. Oktober 2022 um 15:03 Uhr

Ich war gerade in ihrem Büro angekommen. Ein aus Höflichkeit aufgesetztes Lächeln schenkte ich ihr. Sie hat es bemerkt und sagte: „Es tut mir echt leid, was gerade in deiner Heimat vorgeht. Hab‘ einige Videos dazu angeschaut…“ Wollte sie mich mit der Melancholie in ihrer Stimme trösten – „Danke, ja, wir sehen nur diese Filme, wie ein Blockbuster. Allerdings ist der Unterschied, dass in diesen Videos echte Menschen agieren und ihr Leben verlieren wie Mehrshad.“  (Mehrshad Sharifi, Märtyrer) Das erwiderte ich, ohne sie anzuschauen. Die Stimmung blieb in der fünften Etage des Gebäudes angespannt.

Tag 64:  18. November 2022 um 18:56 Uhr

Vor ein paar Tagen bekam ich per WhatsApp die Nachricht: „Kannst du einen Beitrag zur aktuellen Situation im Iran schreiben?“ Ich gab meine Zustimmung, obwohl ich wusste, dass ein Beitrag nicht genug ist. Man könnte ein Buch dazu verfassen.

Seit diesem Tag kann ich kaum schlafen, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll und womit aufhören. Zur selben Zeit werden meine Geschwister, jung und alt, noch als Kind oder schon erwachsen täglich oder auch stündlich auf grausame Art und Weise auf den Straßen getötet. Welchen Namen soll ich denn erwähnen? Welche Inhalte im Beitrag werden der Bewegung gerecht?  Ist es die über 50-prozentige Inflation, die zur Armut in einem der reichsten Länder der Erde geführt hat? Ist es die Kinderarbeit?  Die 12-prozentige Arbeitslosigkeit gut ausgebildeter Arbeitnehmer? – „Heute wurde ein Neunjähriger erschossen! Glaubst du das? Ein Neunjähriger!“, das berichtete sie mir weinend am Telefon. (Killing of Kian Pirfalak). Gleichzeitig sah ich mir die Nachrichten beziehungsweise die Videos dazu an. Dann vergossen wir beide im Stillen viele Tränen. Mit angstvoller Stimme fragte ich in die Leitung: „Ist das Internet noch geblockt? Ich erreiche niemanden. Werden sie denn alle meine Geschwister erschießen?“

Einige Monate später

„Hani! Hani! Willst du nicht aufwachen? Gleich kommt Besuch!“, ruft laut und fröhlich eine bekannte Stimme aus dem Nebenzimmer. Ich mache die Augen auf und gucke etwas verwirrt meine Umgebung an. Die Sonne begrüßt mich, und die Vögel spielen bereits eine Morgenmusik. Ich stehe auf und gehe ans Fenster. Eine angenehme Wärme streichelt sanft meine Wangen und meine Haare. In diesem Moment geht ein Passant am Fenster vorbei: „ صبح بخیر دختر زیبا. صبح آزادیمون بخير“ (Auf Deutsch: „Guten Morgen hübsche Frau, einen guten Morgen unserer Freiheit.“) Er begrüßt mich auf persisch und gratuliert zur Freiheit Irans … unsere Freiheit.

August 2023 Iran, Isfahan

„Hoffnung ist der Schlüssel zum Erfolg“

 

Autorin: Hanieh Hamidpour, ausgewandert mit 15 nach Deutschland, seit 2018 Krankenschwester; derzeit Biologie Studentin an der Universität zu Köln